Nach Hirnschädigung durch eine neurologische Erkrankung, einen Schlaganfall, ein Schädelhirntrauma oder als Folge einer Tumorentfernung können schwerwiegende Störungen des Bewusstseins auftreten. Diese werden auch als Wachkoma, minimal responsive state oder vegetative state bezeichnet. Die Betroffenen sind zumeist wach, reagieren jedoch gar nicht oder nur minimal auf ihre Umwelt, inklusive Ansprache oder sensorische Reize von außen.
Die Behandlungsleitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) empfiehlt nun für diese Patienten eine Behandlung mit Musiktherapie. Bei dieser Form der Therapie werden durch die Therapeutin/den Therapeuten vertraute Klänge, die Singstimme oder biografisch bedeutsame Musik eingesetzt. Musik hat eine starke und oft auch nachhaltige Wirkung auf die Hirnfunktion. Und sie kann die Reaktionsfähigkeit von Menschen mit Bewusstseinsstörung verbessern und so dazu beitragen, Wachheit und Kommunikation anzuregen.
Für die Leitlinienempfehlung der DGN für 3 klinische Studien ausgewertet. Alle drei Publikationen waren von hoher wissenschaftlicher Qualität und belegen eine Verbesserung der Interaktion mit der Umwelt als Reaktion auf die Musiktherapie. Daher lautet die Leitlinienempfehlung, dass die betroffenen Patient*innen ein Musiktherapieangebot erhalten „sollten“. In den Leitlinien, die von der Arbeitsgemeinschaft für wissenschaftlicht-medizinische Forschung (AWMF) herausgegeben werden, lauten die Empfehlungen grundsätzlich auf „soll“, „sollte“ oder „kann“. Eine Sollte-Empfehlung bedeutet, dass die Mehrzahl der Patient*innen eine entsprechende Behandlung erhalten sollte.
Die Besonderheit von Musik sehen Hirnforscher wie der deutsche Musik-neurowissenschaftlicher Prof. Stefan Koelsch darin, dass sie in der Lage ist, komplexe neuronale Netzwerke im menschlichen Gehirn anzusprechen. Dabei werden nicht nur Emotionen und Erinnerungen geweckt, sondern gleichzeitig auch mentale Vorgänge wie Bewegung oder gesteigerte Konzentration angesprochen.
Die Vorteile einer musiktherapeutischen Behandlung sieht die Leitlinie darin, dass die Therapie nebenwirkungsarm sei und vergleichsweise einfach anzuwenden.
Stefan Koelsch (2019). Good Vibrations. Die heilende Kraft der Musik. Ullstein Verlag